Straßendunkelheitsphotographensoap

Anja saß in der ersten Etage und schaute auf die Straße. Es wurde Abend und die Straßenlaternen schalteten sich ein. Sie sah von ihrem Fenster aus beinahe jeden Abend diesen Vorgang. Flackernde Neonröhren im Abendgrau. Anja saß auf der breiten Marmorfensterbank, warm von der Heizung. Sie atmete an die Doppelverglasung und sah die Autos auf der leicht abschüssigen Straße. Sie sausten rauf und runter. Einige hatten kein Licht eingeschaltet. Anja wollte dann immer das Fenster aufreißen und schreien: "LICHT AN!!!" Doch, was hätte das genützt? Das wußte sie selber nicht. Es schrillte, Anja hatte sich erschrocken, ach ja, Vater kommt die Sachen bringen. Das schmale Mädchen ging zur Wohnungstür, um ihm zu öffnen. Herr Wörner betrat die Wohnung, die er für seine Tochter gemietet hatte. Unter dem Arm trug er einen braunen Karton mit allerlei Sachen darin. Für Anja: Eier, Brot, Milch, Zucker, Nähzeug (Anja nähte kunstvolle Kleider), einen neuen Pyjama, Quittenkonfitüre, Asperin, Tiefkühlpizza, Cola, Zahnpasta, die Videokassetten und... "Wo sind die Kerzen?" "Tschuldigung, die hab ich vergessen, Kind. Am Donnerstag denk ich an sie." Anja ging schweigend ins Wohnzimmer, schaute richtung Fenster, nach draußen, wo die Kerzen waren, setzte sich aber in das Sofa und schaltete per Fernbedienung das Gerät an. Peter Wörner verräumte den Inhalt des Kartons in die Küchenschränke, auf den Tisch und über den Stuhl. Er wollte gehen, bemerkte aber, daß kein Licht in der Wohnung an war. Er drückte den Schalter neben der Wohnungstür. "Bis Donnerstag." Anja hörte die Tür ins Schloß fallen. Sie atmete aus und ging zum Lichtschalter neben der Küchentür. Sie drückte darauf und setzte sich wieder vor den Fernseher. Sie rollte sich in eine Wolldecke, heute kam auf RTL Der mit dem Wolf tanzt. Anja liebte Kevin-Costner-Filme. Wenigstens hatte Vater an die Videos gedacht und sie konnte den Film aufnehmen. Anja war 22, 1,75m groß, brünett, blauäugig und ein Einzelkind. Das heißt, ihr kleiner Bruder starb schon mit zwei bei einem Verkehrsunfall.

Seine Eltern hatten ihm den Namen Frederick gegeben, und so hieß er in der Schule Fred. Freddy, Freddy Krüger. Früher machte es ihm was aus, heute war es Fred egal, wie er hieß. Er mochte seinen Namen jetzt sogar. Viele sagten auch Bukowski, das war sein Familienname. Die Bukowskis kamen Ende der Siebziger als ehemalige Deutsche aus Pommern nach West-Deutschland. Sie waren ungeheuer fleißig und das machte sich damals in der Bundesrepublik besser bezahlt. Fred war ein Jahr alt gewesen, als sie nach hier kamen, sein Bruder Markov drei. Sie wuchsen in Celle auf. Fred studierte jetzt Medizin in Freiburg. Er war im dritten Semester und wohnte zusammen mit Britta und Tepe in einer WG. Fred versuchte, in seinem Zimmer bei laufendem Fernseher zu lernen, während Britta und Tepe in der Küche einen Joint rauchten. Der wievielte heute eigentlich?
"Diese verdammte Prüfung, ich werde durchfallen!"
"Was schimpft der wieder?"
"Hier. OC-Prüfung, morgen."
"Danke. Armer Fred", sagte Britta und nahm einen Zug.
"Guck mal, Miss Magersucht schaut wieder aus dem Fenster."
"Was, wo?"
"Na, dort! Auf der Ersten. Das Fenster ohne Licht, aber den Fernseher siehste laufen."
"Oh, scheiße, das ist... Mensch, das hab ich ganz vergessen, wieso hast du mich denn nicht daran
erinnert!" Britta stürzte in ihr Zimmer und schaltete den Fernseher an. Tepe war aber gar nicht unzufrieden, daß sie auf einmal mit der Tüte alleine da saß. Fred kam rein. "Na? Genug gelernt jetzt, hier, zieh mal",sagte sie, während ihr der Qualm noch aus dem Mund quoll.
Fred setzte sich zu Tepe und nahm den Joint aus einer Hand mit mehr Ringen dran als Fingern.
"Schläfst du eigentlich auch mit dem ganzen Metall?"
"Nur das Schamlippenpiercing nehm ich ab."
"Wo isn Britta?"
"In ihr Zimmer gestürzt, nachdem sie im Fenster gegenüber gesehen hat, daß heute Der mit dem Wolf tanzt in der Glotze läuft." Tepe zeigte hinüber und Fred sah Anja.

(Werbung)

Die Werbeunterbrechung war vorüber, der Film hatte längst wieder angefangen, doch Anja konnte sich nicht von der Straße losreißen. Sie hatte eine Frau in einem tollen Kleid vorbeigehen sehen. Sie sah es nur kurz unter der Laterne aufschimmern. Sie hatte es sich genau eingeprägt. Im Bruchteil einer Sekunde. Morgen würde sie Vater anrufen, welchen Stoff sie benötigte. Das Kleid war längst weitergegangen in ein Restaurant oder auf einen Tanzabend, wo Anja sich wieder vor das Fernsehen hockte. Es dauerte nicht lange, da kam schon die nächste Werbeunterbrechung und Anja schaute zu.

Als Fred anderntags in die WG kam, wollte er Britta und Tepe anschnauzen, ihretwegen habe er OC verhauen, allerdings war niemand hier. Gegenüber, am Fenster, saß Anja und blickte auf die Straße. Er setzte Kaffee auf, setzte sich mit der neuen GEO an das eigene Küchenfenster und betrachtete sie. Sie bemerkte nicht ihr Beobachtetwerden, wenigstens schien es Fred so. Er konnte sie gut sehen, das Sonnenlicht fiel günstig. Anja stand vor ihrem Spiegel und betrachtete sich intensiv. Sie hielt sich Kleider vor die Brust, ihre Kleider. Sie tanzte damit durchs Wohnzimmer. Fred glaubte sie höre Musik, er schlürfte seinen Kaffee und blätterte gelegentlich in der Zeitschrift weiter. Er kam auf die fixe Idee, ein Foto von Anja zu schießen. Fred holte seine Kamera und zielte. Wo er den Auslöser drückte, schaute sie zu ihm herüber. Erschrocken legte Fred die Kamera auf Seite. Er wartete auf ihre Reaktion. Daß sie ihm den Mittelfinger zeigen würde oder verärgert die Vorhänge zuziehen. Nichts geschah. Sie schaute Fred einen Augenblick an, setzte sich auf das Marmor und blickte wieder auf die Straße und ihren Verkehr. Die WG-Tür flog, Britta und Tepe stürmten schallend und albernd Freds tragische Bühne.
"Hey, Freddy! Was machstn fürn Gesicht, Liebchen. Och -, Prüfung verpatzt?"
"Was, Prüfung?.. Ach ja. Ja, ja – hat nicht geklappt", sagte er etwas unaufmerksam.
Tepe nahm Fred mütterlich an die Brust und streichelte dem kaffeeschlürfenden GEO-Leser das Köpfchen. Sie setzten sich neben ihn, rieben ihm die Händchen, "Kopf hoch!" Fred wollte von der nichtigen Prüfung ablenken, "Will jemand Kaffee?"
Anja ging in ihr hellblau gekacheltes Badezimmer und zog sich aus. Sie schaute dem Wasser zu, wie es in die Wanne einlief. Einen Spritzer Badeschaum gab sie hinzu. Eigentlich badete sie abends, aber ohne Kerzen...? Heute war Donnerstag. Sie lag im heißen Wasser als es schrillte. Sie blieb liegen. Es schrillte erneut und Peter Wörner rief von draußen. Anja, Anja; bist du nicht da? Anja antwortete nicht. Peter Wörner hatte einen Reserveschlüssel für die Wohnung und öffnete. Er stürmte durchs Wohnzimmer, an der Küche vorbei ins Bad. Seine Tochter badete.
"Anja, wieso hast du nicht aufgemacht?"
"Ich bade."
"Warum hast du nicht gerufen?" Sie stand auf in der Badewanne, stehend in der Keramik war Anja fast so groß wie ihr Vater. Wasser und Schaum tropfte über die Gänsehaut, lief zwischen Brüsten und Beinen nach unten. Ihr Vater sah sie immer noch fragend an. "Gibst du mir bitte das Handtuch", sagte sie mit etwas flirrender Stimme, und sie streckte den Arm nach vorne, so daß Wasser auf Peter Wörners Anzug geriet. Er gab ihr ein großes rotes Handtuch und verließ das Bad. Im Wohnzimmer rief er hinter ihr her: "Ich habe dir Kerzen mitgebracht." Anja wringte die Haare über der Wanne aus, rieb sich ab, machte sich einen Turban um den Kopf. Sie zog einen Bademantel an und ging zu ihrem Vater ins Wohnzimmer.
"Kind, du mußt mehr essen, du bist ja ganz dürr."
"Bin ich nicht."
"Ich habe doch gerade gesehen, wie dünn du bist!"
"Weil du nicht anklopfen kannst."
"Weil du nicht antworten kannst."
"Ich habe dir nichts zu sagen", sagte Anja und ging in die Küche. Ihr Vater verließ wütend die Wohnung:
"Ich mach das nicht mehr länger mit. Du bist verwöhnt. So geht das nicht weiter. Ich werde dir einen
Psychologen schicken, ich werde..."
"Soll ich dem Psychiater etwa mein Herz ausschütten? Soll ich ihm sagen, was du tust?"
Die Wohnungstür knallte ins Schloß. Anja machte die Kette vor. Sie fing an zu weinen, sie schlug sich vor die Brust und auf den Kopf und glitt mit dem Rücken an der Türe nach unten. Der Bademantel war ganz verrutscht, sie kauerte im eigenen Mitleid. Schließlich überlegte sie, ob der Junge mit dem Fotoapparrat sie in diesem Teil des Zimmers sehen könnte. Sie ging sich zwischen ihre Beine. Dort war das Schamhaar feucht, warm und flauschig.
"Ich kann Miss Magersucht gar nicht sehen heute", scherzte Britta und starrte angestrengt auf die erste Etage.
"Laß das Fenster-zum-Hof-Spielen", sagte Fred mürrisch und zog eine halbe Gardine vor.

(Werbung; Gleich, der Blockbuster...)

Keine Kommentare:

Lampenfieber

Rocknroll

Canadian Rye