Roman: Lampenfieber, 2. Kapitel

Die Stadt ist an diesem kühl-sonnigen Samstagmorgen ein blitzender Brei aus Autos, Glas und aufgestylten, gut gekleideten, geschäftigen Menschen. Erwin Teizler versucht so gut es geht, seinen Alfa-Romeo durch die Blechströme zu manövrieren. Die Fußgänger, die wie dunkle Ameisen die riesigen Bürgersteige überschwemmen, kommen schneller voran als er, findet Erwin. Eigentlich ein frischer Tag, aber das dauernde Stehenbleiben und Anfahren seines Vordermannes und die dadurch entstehenden Emissionen zwingen Erwin dazu, die Klimaanlage auf Umluft zu stellen. Er telefoniert mobil, teilt Hermann Stahl mit, er könne sich eventuell verspäten. Der Kassenwart hat dafür vollstes Verständnis. Gerade als die Verbindung zwischen dem Alfa-Fahrer und seinem Zielort beendigt ist, öffnen sich vor Erwin die Karosseriefluten und er kann den trockenen Asphalt sehen! Wie durch ein Wunder löst sich der Stau vor ihm auf, und Erwin verfrüht sich sogar noch. Es ist elf Uhr durch, Erwin findet Hermann im großen Saal; am Bühnenrand unterhält sich dieser mit Arthur Wilhelm Kinsinger. Was ein solcher Name nicht gleich verrät: Kinsinger ist die zweite Besetzung der Hauptrolle in dem gerade angelaufenen Stück "Apollo - Ein junger Dichtergott". Fliegender Wechsel: Arthur Wilhelm packt seinen Beutel und geht ab. Erwin gesellt sich nun zu seinem Kassenwart. Hermann zwinkert mit seinen kühlgrauen, engen, aber doch eine gewisse Heiterkeit ausstrahlenden Augen hinunter zu Erwin, was soviel bedeutet wie "Guten Morgen". Erwin ist an die Einsachtzig groß, dennoch überragt ihn Hermann um mindestens eine Kopflänge. Dazu besitzt er, im Kontrast zu seinem sanften Gemüt, die Statur eines Schrankes, was ihm am Theater einen Spitznamen eingebracht hat. Wenn jüngere Schauspieler ihre Gage einmal mehr zu schnell verpraßt haben, heißt es nicht selten: "Biste mal wieder pleite?" "Nee, mein Geld liegt noch im Schrank!"
Dieser Hermann Stahl also eröffnet das Gespräch: "Die finanziellen Verluste des gestrigen Abends bewegen sich ja gerade noch im verträglichen Rahmen. Was viel schlimmer wiegt, ist der Skandal. So eine Sache ist einfach unglaublich rufschädigend!"
"Wir haben eine Verantwortung, Hermann. Daß die Regionalblätter darüber wie Hyänen herfallen würden, war ja abzusehen, aber heute morgen rief mich Gerda von Hamburg aus an, einige überregionale Zeitungen wollen es diese Woche auch noch bringen!"
"Eine Blamage für unsere Stadt."
"...und eine Blamage für uns", wirft Erwin heftig ein, schließlich ist er der Intendant.
"So etwas darf einfach nicht passieren! Ab sofort wird kein Stück mehr aufgeführt, ohne daß eine zweite Besetzung die ganze Spieldauer über anwesend ist!"
"Du tust ja gerade so, als wäre Theater ein Fußballspiel - und wenn ein Spieler gefoult wird, holt man einen neuen von der Ersatzbank...?"
"Ich habe diesen Hendrik Kruger für ein äußerst zuverlässiges junges Nachwuchstalent gehalten. Die Premiere lief so fantastisch, dieser rasende Beifall am Ende einer Vorstellung - Standing Ovations, das gehört mir zu den glücklichsten Momenten, obwohl es natürlich die Schauspieler sind, denen der Beifall gilt und die ihn auch verdienen. Was war gestern nur mit Hendrik los?"
"Laß uns am besten zu ihm ins Krankenhaus fahren und ihn einfach fragen."
"Vor zehn Minuten habe ich dort angerufen. Sie haben ihn bereits wieder entlassen. Bei ihm zu Hause geht auch keiner ran. Wir müssen wohl warten bis er zu uns kommt!"
"Hendrik ist jedenfalls raus aus dem Stück", beschließt Erwin, indem er es sagt, "seine noch übrige Gage behältst du ein. Der soll froh sein, wenn wir ihn nicht verklagen. Ich werde Rolf leider aus dem Urlaub zurückholen müssen, es geht nicht anders, daß ein Ersatzspieler unersätzlich ist, sehen wir ja."
"Anita hat mir gestern, als der ganze Rummel vorbei war, erzählt, Hendrik habe so stark geschwitzt, daß die Schminke kaum auf seinem Gesicht haften blieb..."
"Der Notarzt meinte, Hendrik habe extrem niedrigen Blutdruck gehabt und er weise typische Schocksymptome auf?"
"...Anita sagte, Hendrick hatte etwas, was sie in so starker Form seit ihrer Zeit beim Laientheater nicht mehr erlebt habe, - sie sagte, Hendrik hatte Lampenfieber!"

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