Unfallstellen

Ich packte den Abräumwagen zusammen, um ihn runter in den Keller zu schieben – zum Spülen. MEINEN ZIVILDIENST HABE ICH MIR NICHT AUSGESUCHT leuchtete diesen Tag, wie so oft, in rosa-neon Reklameschrift vor meinem inneren Sichtfeld.
Ich begegnete dem schwulen Koch, wie jeden Morgen um die Zeit. Ich öffnete gedankenlos die Maschine, um die Teller, Tassen, Löffel und Messer auf die Plastikpaletten zu packen. Zack, Hebel runter, Maschine läuft, nächste Palette packen. An meinem ersten Tag stieß ich beim Sortieren des Abräumwagens auf eine feinsäuberlich herausgepellte Eigelbkugel im Eierbecher. Ich muß wohl dementsprechend geglotzt haben, als hinter mir lachend Gregor auftauchte: "Das Ei von Herrn Marby", weiterging und mich, wie so oft, in meiner Arbeit stehen ließ.
Die Altenheimstation war nett. Es gab nette Schwestern, nettes Küchenpersonal, und es gab mich, Eddi. Ich machte mir nichts draus, sondern schrieb geflissentlich die verbleibenden Tage mit Edding auf die Sprudelflaschen, noch "98"! In regelmäßigen Abständen kam Frau Basel den Flur hochgetrippelt, brabbelte mich voll; ich drehte sie um, brabbelte auch etwas in ihr Antlitz und ließ sie den Flur wieder hinuntertrippeln. Einsam.
Heute war der Tag der Sonnenfinsternis. Neben des Aufstiegs unseres Fußballvereins in die zweite Liga gab es seit einer Woche kein anderes Thema mehr. Jeder hatte sich Sonnenfinsternis-Pappbrillen gekauft, und dann war der Himmel zugekleistert mit einem einzigen Wolkenband. Trotzdem ließ jeder seine Arbeit, die Alten, stehen und stürmte in der vierten Etage auf die große Terrasse, auf die Balkone und in den Hof, zu schauen, ob nicht der Himmel aufreißt und die dunkle Sonne hereinschaut. Das tat sie nicht, nur die mattgraue Wolkendecke wurde dunkelgrau und für ein paar Minuten konnte man die Kälte spüren.
Jeden Tag fuhr ich mit dem Auto die gleiche Strecke zum Heim. Ich hätte mit geschlossenen Augen fahren können, und wenn es tags zuvor eine Pool-Party bei Harry gegeben hatte, tat ich das auch.

Herr Genz motzte über seinen Zimmerkollegen. Er war einer der wenigen Privilegierten, die nicht alleine liegen mußten. Für die meisten gab es Einzelzimmer. Herr Eiche stand schon morgens im Flur, jedesmal wenn ich, die Augen noch verklebt vom Schlaf, das Frühstück brachte. Er nannte mich "seinen Freund". Ich nannte ihn Herrn Eiche. Manchmal saß ich bei ihm im Zimmer, um einen Kaffee zu trinken. Wir rauchten Zigaretten und schauten MacGyver. Herr Eiche war seit einem Schlaganfall linksseitig gelähmt. Er tischte mir seine Lebensgeschichte auf. Als er nach Jahrzehnten Abteilungsleiter in seiner Firma werden sollte, traf ihn der Schlag. Aus die Maus. Gabi rief mich, als ich im Flur rumschlenderte, ich könnte Füttern helfen. Ich fütterte eine Alsheimerin, die mich während ihrer Flüssigmahlzeit unverwandt anglotzte. Vielleicht erinnerte ich sie an wen, dachte ich, an ihren Bruder, Vater, Mann? Das Glotzen störte mich. Löffel für Löffel schob ich ihr in den Mund, hielt ihr die Schnabeltasse hin und wünschte mir, sie möge bloß aufhören, mich anzuglotzen! Sonst zählte Füttern nicht zu meinen Aufgaben. Sondern Spülen, Essen servieren und: im Keller Wäsche zuorden. Solange man die Namen noch nicht kannte, war es langwierig, später nur noch langweilig. Ein Kellerraum, Kleider und die Namen der Alten. Einsam. Leise.
Nach einem Fest im Haus schlief ich in einem freien Schwesternzimmer. Von Gabi und Anita wurde ich geweckt, wie ein Alter, und natürlich auch entsprechend veräppelt und aufgepeppelt. Der Witz verlor sich schnell. Witziger war eine andere Gelegenheit. Gregor hatte mir vom Brauchtum der Schwestern erzählt, einen erwählten Mitarbeiter in der großen Badewanne zu taufen. Die Schwestern sagten: "Du kommst auch bald dran, Eddi". Ich nahm es ehrlichgesagt nicht ernst. Dann standen plötzlich sieben Schwestern in der Küche, packten mich, trugen mich den Flur entlang, an den Zimmern der Alten vorbei, bis in den Waschraum, und machten mich naß. Unglaublich fand ich das!

Ich war heute sehr müde, ich hatte nur drei Stunden oder weniger geschlafen, seit Tagen. Auf der Rückfahrt schlief ich ein und setzte meinen Karren vor einen Baum. Ich starb gleich an der Unfallstelle.

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