Roman: Lampenfieber, 1. Kapitel

Hendrik schweigt.
Die Mutter kreischt auf den Kleinen ein. Der Vater hebt drohend den Finger.
Hendrik weint nur. Seine Eltern schweigen jetzt auch.


Die Vorstellung muß wegen Künstlerkrankheit heute leider ausfallen. Das ausverkaufte Haus ist empört. "Unerhört!" "Ich will mein Geld zurück." Masse, überallemaßen entrüstet. Man sieht ihre vielen Mäuler spucken und schimpfen, verzogene Fratzen, wo man hinschaut; und soviel Lärm, dann Stille. Endlich. Allein.

Hendrik erwacht in weißem Raum. Rechts von ihm sind zwei große Fenster gekippt. Kühle Februarluft und helle Morgensonne zieht herein. Er hört Vögel, immer machen ihre Gesänge Hendrik glücklich. Er lauscht den Geschöpfen ein paar Sekunden, ist ihnen ein unsichtbares Publikum. Hendrik vergißt sie wieder und denkt an sich: Wo bin ich? Er schlägt das weiße Laken ein wenig zurück, hält inne. Jemand hatte ihn ausgezogen und in ein weißes Nachthemd gesteckt!
Der Raum, in dem er sich befindet, ist so weiß, daß es Hendrik blendet, niemand außer ihm ist hier. Nach links über den Bettrand geschaut verengt sich sein Zimmer bald zu einem dunklen Gang, an deren rechter Wand er noch einen billigen Wandspiegel wahrnimmt. Darin schimmert der Ausgang. Die Tür ist weiß, wie alles hier, aber in diesem schwachen Licht erscheint sie ihm grau. Hinter dieser Tür kann er jetzt Geräusche hören, abgedämpft, Leute reden, abgeschwächt, rascheln, ein fernes Poltern, ein Telefon schrillt wie unter einer Bettdecke versteckt, so verhalten. Dann dieser Geruch nach Formaldehyd... Kein Zweifel. Er ist zwar schon seit seiner Geburt in keinem mehr gewesen, dennoch weiß Hendrik, er befindet sich augenblicklich in einem Krankenhaus! Er untersucht sein Bett nun etwas genauer. Zu beiden Seiten, lose und runtergeklappt, gibt es Gitter. Der junge Mann im Nachthemd, morgen wird er vierundzwanzig, beugt sich gerade soweit unter seine Matratze, daß er nicht hinausfällt, betrachtet kopfüber die Rollpfosten aus weiß lackiertem Metall und schwarz herunterhängende Lederriemen - alles sah schon benutzt aus.
Ein Türgeräusch, Hendriks Pupillen weiten sich langsam wie in Zeitlupe, sehen falschrum weiße Sandalen und mit dünnweißen Söckchen bedeckte Knöchel einer Frau darin laufen. Er sieht größere Schuhe, weiß, weiße Hosenbeine fallen darüber. Die weißen Strümpfe dieses Herrn kann er nicht sehen, dafür den Rockzipfel eines Arztkittels. Hendrik beschließt, sich wieder aufzurichten, um den ersten Besuch des Tages in Empfang zu nehmen. Das Unterfangen erweist sich jedoch als schwieriger als angenommen. Blut ist ihm in den Kopf gelaufen und das wiegt jetzt. Endlich wieder aufrecht begrüßt ihn der Arzt, der an seinem linken Bettrand Stellung bezieht. Die Schwester tritt nur hin und wieder schemenhaft gebeugt hinter dem großen Kittel des Arztes hervor, sie scheint irgendwelche Ampullen vorzubereiten. Eine schwarze Haarsträne, zu lang oder zu kurz, rutscht ihr dabei aus ihrer Spange und baumelt störend vor der Nase. Der Arzt, währenddessen er Henrik routiniert das Stetoskop zwischen die (sich dabei von selbst öffnende) Knopfleiste seines Hemdes und auf die unbehaarte glatte Brust des Jünglings schiebt: "Guten Morgen Herr Krüger, ich mö..."
"Ich heiße Kruger, Hendrik Kruger, mit u!"
"Ja, Herr Kruger, die Umstände, unter denen sie gestern Abend bei uns eingliefert wurden, sind, da sie ja jetzt wieder ganz munter scheinen - sind nicht weiter bedenklich und bedürfen keiner stationären Folgebehandlung. Sie hatten lediglich einen Nervenzusammenbruch."
"Was hatte ich - ...?"
"Vorübergehender Bewußtseinsverlust, Sie erlagen gestern einer Ohnmacht und fügten sich durch Sturz eine Platzwunde über dem linken Auge hinzu." Erst jetzt fällt Hendrik auf, daß sein Kopf bandagiert und eine Kompresse um seine Stirn gebunden ist. Unwillkürlich und verwundert faßt seine Rechte an das Textil.
"Ein Herr Titzler rief Ihnen gestern den Notruf, der sie hierherbrachte. Er dachte wohl zunächst an Schlimmeres, wegen der Platzwunde", so spricht der Arzt weiter, und beiläufig: "Ja - das viele Blut, das beeindruckt den Laien." Hendrik starrt geradeaus ins leere Weiß und versucht, sich an gestern abend zu erinnern. Es will ihm nicht recht gelingen.
"Sie können das Krankenhaus aber bereits heute wieder verlassen." Der Arzt legt plötzlich ein heiteres Gesicht auf und fügt dem Gesagten noch hinzu: "Wenn Sie das nächste Mal in Ohnmacht fallen wollen, sorgen Sie besser dafür, daß genug Leute um Sie herumstehen, die Sie auffangen. Trinken Sie bitte, was Schwester Anke Ihnen an Ihr Bett stellt. Das wird Sie erfrischen. – Denken Sie daran, bevor Sie gehen, sich an der Rezeption abzumelden."
Er läßt sich auf einem Schreibbrett Hendriks Unterschrift geben. "Ich wünsche noch einen schönen Tag", worauf der Arzt sich unverwandt umdreht und anschickt zu gehen. Schwester Anke schiebt einen Rolltisch mit einer Vitaminampulle darauf schwankend an sein Bett, erhöht die Ablage durch einen Mechanismus und bringt so das Getränk in Hendriks Greifnähe. Anschließend tippelt sie schnell, ohne ihn einmal angesehen zu haben, dem Doktor hinterher. Hendrik hört die Tür zufallen, er ist wieder allein. Für wie lange wohl? Etwas verstohlen schaut ihn der Vitamindrink an. Hendrik hat eigentlich nichts gegen eine Erfrischung einzuwenden, dennoch wagt er es nicht, die Ampulle anzurühren. Die Sonne versteckt sich ein wenig hinter den Wolken und es wird gleich gehörig dunkler in seinem Zimmer. Was für ein Glück, daß er privat versichert ist, sonst hätte man ihn bestimmt in ein überfülltes Fünfbettzimmer verfrachtet. So allein aufzuwachen, ist ihm schon lieber. Er steigt endlich aus dem Bett, findet im weißen Schrank gegenüber seine Sachen von gestern abend. Es ist sein Theaterkostüm: beiges Rüschenhemd, schwarze Kniehose, lange Leinenstrümpfe, schwere Halbschühchen und der ockerfarbene Frack! Toller Aufzug, denkt Hendrik. Schminke hängt ihm auch noch auf Brauen und Wimpern. Ich muß ja aussehen! Es gibt ein kleines Bad, vom schmalen Flur des Zimmers aus zu erreichen. Hendrik schminkt ab.

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