Roman Lampenfieber, 5. Kapitel

Was waren das früher schöne Zeiten, noch letztes Jahr, noch vor ein paar Monaten. Seine Zweier-WG war nicht leer. Marlice hieß seine Mitbewohnerin. Was für ein tolles Mädchen! Sie war gar nicht wie die anderen sonst, gar nicht, wie er das weibliche Geschlecht eigentlich kennengelernt hatte. Eher wie ein Kumpel. Trotzdem haben sie miteinander geschlafen, wenn ihnen danach war. Sie konnte es gut. Marlice war ein männlicher Geist in einem weiblichen Körper. Sie war eine Erfinderin. Und mit ihr ficken war Sprengstoff! Hendrik verdrängt ein Bild aus Agnes Wohnug. Es war eine Aufführung, eine richtige Show! Für den einen oder anderen Abend, wo er und Marlice sonst einsam gewesen wären, griffen sie nacheinander. Ihre Freunde hielten Marlice für extravagant. Für aufgesetzt. Aber das war sie nicht. Sie schien nur keine Angst vor dem Leben zu kennen - mißachtete seine Tabus und genoß ihre Freuden.
Hendrik macht sich heute endlich sein Frühstück: Setzt Kaffee auf, schmeißt das Weißbrot in den Toaster. Die üblichen Handgriffe. Wollte er wirklich nur mit Anna frühstücken? Und dann? Auf Erwin warten und sie besprechen zu dritt in der Wohnküche, auf Hockern sitzend, Hendriks gestrigen Ohnmachtsanfall? So´n Quatsch! Alleine frühstücken macht ihm keinen Spaß. Marlice fehlt ihm jetzt. Es war jeden Morgen so lustig mit ihr. Sie war nicht im geringsten Morgenmuffel. Er ist einer. Das Mädchen hatte eine ganz besondere Art zu frühstücken. Hendrick steigt beim Nachgrübeln aus Erwins Sachen und holt seine eigenen Klamotten aus dem Schrank hervor. Marlice hat sich nicht einfach ein Brot gemacht. Kunstwerke hat sie gebaut! Die zum Verspeisen zu schade gewesen wären, wäre es nicht noch ein größerer Schmaus gewesen, sie essen zu sehen. Selbst ein Kleckern fand Hendrik erotisch. War sie es vielleicht? War das Liebe? Warum vermißt er sie so? Er weiß es nicht. Braungebrannter Toast hüpft mutig hervor. Die kleine Marlice war nicht ganz richtig im Kopf! Hendrik erinnert sich an einen Abend, da hörte er sie mit jemandem in ihrem Zimmer streiten: Zuerst dachte er, es wäre nicht weiter ernst. Doch schließlich vernahm er in Marlices Raum Glas zu Bruch gehen und sie kreischte. Hendrik stürmte rein, packte sich den Wüstling und schmiß ihn kurzerhand aus der WG, die Jacke hinter dem verdutzten Gesicht hinterher, zur Tür hinaus. Als Hendrik wieder in Marlices Zimmer kam, fand er sie schlurzend auf ihrem Bett sitzend, Hände und Haare verdeckten ihr das aufgelöste Gesicht. Er setzte sich neben sie, Wange an Wange spürte er ihre Tränen über sein Gesicht laufen. Sie behauptete, der Junge hätte sie geschlagen. Hendrik versuchte sie zu trösten und strich sanft über Marlices Rücken, deutete eine kleine Massage an, die sie sich immer so gerne von Hendrik geben ließ. Er hatte zum ersten Mal das Gefühl, sich in sie zu verlieben. Am nächsten Tag aber, Hendrik kam im Begeisterungsschwall in die Wohnung, er hatte die Stelle beim Stadttheater bekommen und erste Termine für Aufführungen standen schon fest, vergaß er, auch wegen gestern, bei Marlice anzuklopfen und brauste in ihr Zimmer. Die Musik dröhnte volle Kanne. Mit ebendemselben Typ, den er gestern zur Tür befördert hatte, tümmelte diese Marlice sich jetzt im Bett! Schon halb ihrer Kleider entledigt waren sie so heftig zu Gange, daß sie Hendrik gar nicht bemerkten. Hendrik schloß die Tür wieder, hielt sich den Kopf, ging duschen.

*

Ich bin das Geträumte. Das, was mein apollinischer Herrscher gerne wahr hätte. Ich träume davon, eines Tages zu wissen, was das ist. Liebe.

Das Telefon klingelt. Hendrik geht ran.
„Ja.“
„Hallo, hier ist Breda.“
„Wie geht´s dir“, fragen beide gleichzeitig in den Hörer und sie müssen kurz lachen.

Vita Brevis
Interessiert es mich wirklich, wie es ihr geht?
Oder will ich mir bloß alle Wünsche in meinem Leben erfüllen?
Daß ich als alter Mensch einmal darauf zurückschauen und sagen kann:
„Ja, ich habe wirklich alles Schöne mitgenommen!“
Warum werden meine alten, rissigen Hände dann leer sein?
Warum fühlen sie in ihren Flächen nicht mehr den Busen der Agnes?
Warum halten sie - dort in der Zukunft - meinen schweren Kopf, welcher runter auf das gelebte Leben blickt?

„Hendrik, ich möchte dich spielen sehen, morgen ist doch eine Aufführung!“
„Ich bin kein Apoll mehr, Breda. Der Intendant hat mich rausgeschmissen, jede Wette, und wenn er es nicht getan hat, kündige ich!“
„Was hast du nur angestellt? Mein Apoll bleibst du jedenfalls trotzdem. Wenn ich an dich denke, flattern mir die Sterne durch den Bauch!“
„Das beeindruckt mich, Breda. Aber du sollst wissen, könnte ich lieben - so schenkte ich mich einer anderen“, und er denkt an Marlice, die Verlorene.
„Das weiß ich, mein Liebes, für die Liebe reicht mir die Agnes, Hendrik, spielen sollst du! Wenn nicht für mich, dann mit mir, du, mein heißersehnter, arbeitsloser Schauspieler!“
Ist es möglich, daß gerade die Zauberformel des Lebens durch seinen Telefonhörer, in sein Ohr und in die Windungen seines menschlichen Verstandes strömt? Und er muß leise lachen, auch wenn Breda das nicht sehen kann. Zu gern verabreden sich die beiden Seelen für morgen. Sie besitzen Freikarten!

Keine Kommentare:

Lampenfieber

Rocknroll

Canadian Rye