Wahre Liebe

Es ist nicht eigentlich eine romantische Liebesbeziehung, die mich darüber nachdenken läßt. Sie war so alt wie ich, drei Monate älter. Als ich der Wahrheit begegnete, erkannte ich sie nicht gleich, ich war siebzehn! Sie sagte "hallo" und lachte mich immer an, wenn wir uns begegneten. Sie lachte nicht aus Verlegenheit oder aus Überheblichkeit, sie lachte, weil es sie wirklich freute, einen Menschen zu treffen. Ich hielt aus persönlicher Neigung die Augen offen und merkte es schneller als andere. Ich verliebte mich in sie, tiefer als andere. Und ihr Lachen machte viele in sie verliebt. Sarahs Tragik ist es, daß es ihr bewußt ist. Sie weiß um die Liebe, die ihr gilt, und unterliegt deshalb dem Glauben, sie besäße etwas. Sie besaß nichts, was andere Mädchen nicht auch besitzen und meine Neigung zu ihr wuchs jeden Tag. Ich sah sie immer deutlicher. In meinem Gedächtnis stand sie vor mir, wie sie herumalbert mit den Freundinnen, wie sie vor mir in der Reihe sitzt, ich ihre geraden feinen Schultern bestaune, mein verträumter Blick ihren Rücken entlangsehnt, bis in die zu sehenden Spitzen ihres Höschens; an denen verweile ich bis an das Ende dieser Schulstunde... Thorsten, mein Tischnachbar, sah, daß ich sah, und lachte mich aus. Ich lachte mit, obwohl mir zum Heulen zumute war, so verliebt war ich bereits.
Mir genügten optische Studien an ihr nun nicht mehr, und ich versuchte fortan ein Offensivspiel. So jung wie meine neue Liebe war ein Hündchen, mit dem Sarah lange Nachmittagsspaziergänge im Wald zu tun pflegte. Meine Hündin war etwas älter, und so bot sich für uns der gemeinsame Spaziergang an. Die Zeit ohne Sarah lastete auf mir, wie ein schweres Kreuz, an das ich mich nageln lassen wollte. Die Zeit mit ihr im sonnengefluteten Wald zerann mir wie Sand zwischen den Fingern. Ich lieh mir Bücher von Sarah aus, um nach den elenden Abschieden abends um sechs noch etwas für die grausamen Nächte mitzunehmen. Nächte, in denen ich ununterbrochen an sie dachte, mir den Tag mit ihr millionenmal vergegenwärtigte. Sie holte das Buch aus ihrer Tasche und jetzt hielt ich es in meinen Händen. In meinem großen einsamen Dachzimmer. Es war "Eva Luna" von Isabel Allende. Ich glitt über die Buchstaben, über welche ihre grünen Augen schon glitten, ich hielt aufgeklappt, was sie schon vor ihre Brust hielt, mein Gott, es war zum Ohnmächtigwerden! Ich küßte das Buch und es roch auch noch nach Sarah. Sarah. Sarah... Ich glaub, ich mußte weinen.
Das ging lange so mit mir und wenn ich mir einmal sagte, sie wäre nicht wahr, dann lachte Sarah einfach wie sie immer lachte. Und einmal, es war eine Stufenfeier zu Weihnachten, brachte sie mir ein Geschenk mit, das war ein schöngebastelter Brief mit lauter Sternchen und fünf handgeschriebenen Zetteln. Da stand ein Märchen drauf. Von ihr für mich aufgeschrieben. Das Märchen hatte etwa den Inhalt, daß eine Prinzessin Blumenpflücken ging, denn ihr Vater hatte Geburtstag. Sie pflückte aber nur die Blumen am Wegrand und traute sich nicht an die viel prächtigeren, die sie in der Tiefe des Waldes, weiter hinten im Dickicht, aufleuchten sah... Auch andere Freunde sagten mir durch die Blume, daß Sarah, mein Prinzeßchen, vielleicht gar nicht so abgeneigt sei und rieten mir, unbedacht ins Dickicht zu stürzen. Es sollte noch einige Zeit vergehn, bis ichs wirklich tat und unbekannten Boden betrat, der zum Sumpf wurde, aus dem ich mich – Tatsache – am eigenen Schopf wieder herausziehen mußte...
Dies war kurz vor, während, nein direkt nach dem Abitur. Sarah war inzwischen umgezogen, hinter die belgische Grenze, dort besuchte ich sie so oft es das durfte. Ich hatte inzwischen ein klappriges Auto erworben, in dem es eine halbe Stunde zu ihr brauchte. Zum Geburtstag schenkte ich ihr "Lektüre für Minuten", ein süßer kleiner Hesse-Band, den ich auftreiben konnte. Es war Frühjahr '98 und wir gingen im malerischen Belgien zwischen Eupen und Verviers spazieren. Hier war es anders als im deutschen Forst, es war gelassener, wir gingen in Verviers auf den Markt und ins Cafe und stellten uns vor, es sei Paris, das fanden wir lustig, dann schlürften wir Netzmelonen bei ihr, und weil ihre Familie aus dem Urlaub zurückkommen wollte, schrubbten wir die Villa Kunterbunt. Der alte Staubsauger hat dabei mehr als einmal die Sicherung rausgehauen.
Im Sommer war diese schöne Zeit vorbei und Sarah flog für ein Jahr als Au-pair nach Amerika. Es wurde nie mehr dasselbe mit uns, und ich wollte nicht mehr in Ohnmacht fallen. Nur töten wollte ich mich und meinen Unverstand, der nicht merkte, wie sie verlorenging, diese Liebe zur Wahrheit.

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